Seit vielen Jahren befasse ich mich mit Fragen rund um meine eigene Identität und diskutiere darüber mit Freund:innen, die ähnlich wie ich einen bunten kulturellen Hintergrund haben, oder auch im Halo-Halo-Netzwerk über relevante Themen. Wer sich wirklich auf die Frage „Wer bin ich?“ einlässt, wird schnell merken, dass sich darauf keine einfache Antwort finden lässt.
Ich schreibe diese Zeilen während einer längeren Familienzusammenkunft in Australien. Mit dabei sind zahlreiche Familienmitglieder meiner Frau, darunter auch ein „neuer“ Bruder. Jahrelang wusste er überhaupt nicht, dass er zur Familie gehörte, und staunte nicht schlecht, als genauere Nachforschungen ergaben, dass auch er deutsch-philippinische Eltern hatte!
Jahrelang glaubte er, unter anderem italienischer Herkunft zu sein, und hatte sich auch so definiert. Doch was macht das mit ihm jetzt? Wird er, weil er nun weiß, dass sein biologischer Vater Filipino war, automatisch zum (Teil-)Filipino? Oder kann er weiterhin „behaupten“, Italiener zu sein, da sein vermeintlicher Vater italienischer Herkunft war? Vielleicht sieht er sich primär als US-Amerikaner, da er schon lange dort lebt.
Doch nicht nur bei meinem „neuen“ Schwager und mir als deutsch-philippinischem Australier (?) werden Fragen nach Herkunft und Identität schnell komplex. Selbst bei sogenannten „Bio-Deutschen“ verwässert sich die „Reinheit“ der eigenen DNA, je tiefer man in die Familienhistorie schaut.
Ist man noch ein „echter“ Deutscher, wenn die Großmutter aus Rumänien nach Deutschland geflüchtet ist? Ist man „deutscher“, wenn beide Eltern Deutsche sind, man selbst aber in Kenia von genau diesen Eltern geboren wurde? Was bedeutet es überhaupt, „Deutsch“ zu sein? Sollte man nur von Deutschen sprechen, wenn einwandfrei alle Vorfahren nachweislich „nur“ Deutsche waren? Doch wie weit geht man in der Geschichte zurück, wenn vor 1871 die deutschen Grenzen noch ganz anders aussahen als nach 1949?
Nationale Identität und Migration
Aus meiner Sicht ist nationales Denken völlig veraltet. Nationale Grenzen sind ohnehin willkürlich definiert worden, und als Mensch hat man keinerlei Einfluss darauf, wo man geboren wurde. Durch das Abschotten von Ländern geht es häufig um Wohlstandswahrung, den Schutz der eigenen Werte und Kultur, vor allem aber um die Kontrolle von Migration oder deren Unterbindung.
Migration war jedoch schon immer ein zentraler Bestandteil der Menschheitsgeschichte. Sesshaftigkeit begann erst mit dem Aufkommen des Ackerbaus, während Migrationsgeschichten der Normalfall waren — nicht Geschichten von Isolation oder klar definierten Identitäten. Unsere modernen, festen Konzepte von Identität sind vielmehr Konstrukte, die sich aus historisch zufälligen und politisch motivierten Grenzen entwickelt haben.
Das Beispiel meines Schwagers zeigt, wie flexibel und vielschichtig Identität sein kann. Während er sich jahrelang als Italiener gesehen hat, zeigt ihm sein neuer Hintergrund eine weitere Facette seiner Identität. Doch was zählt mehr: Biologie, Kultur oder die persönliche Wahl?
Fazit: Eine Welt ohne Grenzen
Persönlich glaube ich, dass wir uns von den starren Kategorien nationaler Identität lösen sollten. Identität ist nicht statisch, sondern dynamisch und wandelbar. Sie wird beeinflusst durch Biologie, Kultur, persönliche Erfahrungen und vor allem durch die Geschichten, die wir uns selbst über uns erzählen.
Eine Welt ohne nationale Grenzen mag utopisch klingen, aber sie wäre eine Rückkehr zu unserem ursprünglichen Zustand als wandernde Gemeinschaft. Es würde bedeuten, dass wir Menschen weniger danach bewerten, woher sie kommen, sondern vielmehr danach, wer sie sind und welchen Beitrag sie leisten können. Vielleicht ist das eine mögliche Antwort auf die Frage: „Wer bin ich?“ — ein Mensch mit vielen Facetten, ohne festgelegte Grenzen.